"Wer ihr seid"

(Konstantin Küspert)

Theater Naumburg
Bühne und Kostüme: Anja Kreher
Darsteller*in: Maribel Dente, Antonio Gerolamo Fancellu
Premiere: 25. Oktober 2019

Stücklänge: Eine Stunde. Gespielt wird in einem kleinen Raum. Inmitten der Zuschauer*innen. Zwei Akteure. Eine theatrale Miniatur. In größter Nähte: Ein Konzentrat der Gesellschaft: Wir erleben: Sascha und Chris. Es kriselt. Die beiden spiegeln sich. Sie finden das Verhalten, Denken des Partners befremdlich. Sie streiten. Warum eigentlich? Beide wollen den anderen zwingen, sich im Kampf zu ergeben, die Position des Partners zu übernehmen, sich für den anderen aufzugeben, zu kapitulieren. Die Kernfragen: Wieso verstehen wir uns nicht? Wieso ist es so schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen? Wieso kann keiner über seinen Schatten springen? Wieso fällt es so schwer, manchmal einfach mal Distanz zu sich selber einzunehmen? In der gierigen Suche nach Antworten, da sind sie sich einig.

"Da streiten sich also zwei. Sascha und Chris, Frau und Mann. Sie leben zusammen, und irgendwann landen sie an dem Punkt, an dem sie sich fragen, warum. Ihre Positionen zu nahezu allen Themen sind unvereinbar. Harmlos der Anfang: Wer räumt auf, wer nicht? Wer verdient das Geld, wer nicht? Dann wird es politisch, von A wie Assimilation über I wie Integration bis zu Z wie Zuwanderung. Geschlechterzuschreibungen und Political Correctness. Nicht zu vergessen der Islam. Keiner der beiden will Kompromisse machen, mit dem anderen wirklich Themen besprechen. Jeder will bei sich bleiben und vor allem: Recht haben. Sie trennen sich, bekommen Sehnsucht nach dem anderen, vermissen einander. (…) Aber was ist das? Eine Art "Szenen einer Ehe" für junge Leute von heute? Konstantin Küsperts kurze Szenen, auf der bis auf zwei Stühle leeren Bühne des kleinen Naumburger Theaters jeweils durch ein Licht-aus-mit-Rauschen getrennt, gäben das her. Seine lakonischen Sätze, die Dialoge, die im Grunde keine Dialoge, sondern aneinander abprallende Statements sind, haben alle Male das Zeug dazu. Sie sind ein Blick in deutsche Wohnzimmer. Ein kunstvoll gebautes, gelungenes kleines Stück. - Ist es wirklich nur das, ein Beziehungsdrama? Die Inszenierung zeigt, dass hinter Küsperts Text mehr steckt: die große Metapher für das, was wir alle gerade sind. Eine zerstrittene Gesellschaft, uneins in fast jeder Debatte. Und nicht sehr kompromissbereit. Die Streitthemen in der Gesellschaft sind eben jene, nur das Klima fehlt. Wir leben im Zeitalter der Ent-Freundung. Davon berichtet der Text. - Die Naumburger nutzen diese Chance auf Mehrdeutigkeit. In der Regie von Martin Pfaff lassen sie Sascha und Chris aufeinander losgehen, ohne parteiisch zu wirken. Sie werten die Argumente nicht, was streckenweise sehr erheiternd ist, denn beide haben Gründe, und beide sehen nur, was sie sehen wollen. Chris sieht in Saschas Traum von Toleranz und Weltoffenheit jugendliche Naivität und Unerfahrenheit. Sie in seinem Rollenverständnis als Mann ein Aufbäumen des Patriarchats und in seiner Angst vor Veränderungen "Salon-Rassismus". Beide haben Lacher auf ihrer Seite, gut verteilt sogar, womit ein Zustand erreicht ist, der momentan leichter auf einer Theaterbühne als im Alltag draußen erreichbar ist. Genau hier nämlich, auf dieser Bühne, ist auszuhalten, was draußen im Leben, auf Familienfeiern ebenso wie in Sportvereinen und an Universitäten, in den sozialen Medien sowieso, momentan oft wirkt, als könnten wir nicht mehr vernünftig miteinander diskutieren. Der Paarstreit als Kunstgriff, der uns – Verzeihung, Floskel! – den Spiegel vorhält. - Zur Kunst ein Wort, wir reden vom Theater. Kurzweilig ist es. In den furiosen Beziehungsstreit eingebettet, wirken die großen Themen angenehm leicht. Nicht aufgeladen mit der Richtig-Falsch-Dichotomie, die sich seit einiger Zeit so gerne in Dispute einschleicht. (…) Am Ende der Wortgefechte steht ein Bild. Chris hat die Trennung nicht verkraftet, der Zivilisation den Rücken gekehrt. Er hat sich ein riesiges Zottelkostüm übergezogen, das ein bisschen an das Kukeri-Kostüm aus dem Film "Toni Erdmann" erinnert. Sascha trägt nun einen Raumanzug, und als sie sich wiederfinden, stehen sie wortlos Hand in Hand auf der Bühne. Jetzt hat die Inszenierung plötzlich Poesie. Sufjan Stevens melancholischer Song "Visions of Gideon" ist der perfekte Soundtrack zu diesem Bild. Man kann beides zusammen als Hoffnung verstehen. Oder als Appell: Schluss mit dem Streiten, versucht es mal mit Liebe. Ein furioses Finale."
(nachtkritik)

"Am Ende brauchte der Beifall zunächst etwas, um Fahrt aufzunehmen, dann jedoch gab es stehende Ovationen. (…) Martin Pfaffs Regie strukturiert das Spiel sehr gut. So nutzt er beispielsweise Mikrofon und Taschenlampe, um die sich verändernden Stimmungen und Situationen zu transportieren. Fazit: Wir, das Publikum, erlebten eine sehr gut gespielte wie inszenierte Premiere eines Stückes; dessen Text viel will, aber nicht alles bewältigt."
(Naumburger Tageblatt)

"Hier tragen zwei Schauspieler Haltungen vor, zu denen der sprachbewusste Autor eine Meinung hat. Die möchte er mit dem Publikum teilen. Das spendet am Ende auch reichlich Applaus."
(Mitteldeutsche Zeitung)

"Martin Pfaff inszeniert Küsperts Debüt im mit seiner Auslegeware und grauen Bestuhlung eher an einen Hotelkonferenzraum erinnernden Theatersaal. (…) [D]ie Aufführung beginnt inmitten des gebannten Publikums, das auf vier Seiten rund um die „Bühne“ sitzt, nur Armlängen von den Spielern entfernt. Die unmittelbare Nähe zum Publikum erfordert Furchtlosigkeit, aber auch eine Feindosierung von Stimme und Mimik, auf die sich Dente und Fancellu immer neu herunterdimmen. Sowohl Chris‘ Neigung zum Selbstmitleid als auch Saschas Tendenz, ihr Gegenüber zu belehren, liegen etwas zu früh auf dem Tisch. Andererseits ist so unübersehbar, dass der Paarzwist analog zu gesellschaftlichen Spaltungen verläuft: Hier erstarkende selbstbewusste Weiblichkeit, relative ökonomische Ohnmacht und moralische Überlegen, dort bedrohte Männlichkeit, Abstiegsängste und Hass aufs politisch Korrekte. – Auf der Bühne jedenfalls ist die Trennung unvermeidlich. Dennoch bringt Martin Pfaff Cavemann und Astronaut mit Sufjan Stevens melancholisch-zweifelndem Lovesong „Visions of Gideon“ noch einmal zum Tanzen: ein paar Minuten Eintracht. Schweigen ist manchmal doch eine Lösung."
(Theater Heute)