"Endstation Sehnsucht"

(Tennessee Williams)

Landestheater Detmold
Bühne und Kostüme: Petra Mollérus
Darsteller: Christoph Gummert, Julia Hinze,Hartmut Jonas, Natascha Mamier, Marius Matthewes, Ruben Michael, Robert Oschmann, Jürgen Roth, Joachim Ruczynski, Lukas Schrenk, Nicola Schubert, Lydia Voigt
Premiere: 22. Januar 2016

Drei unterschiedliche Menschen auf engstem Raum. Der Stress ist vorprogrammiert. Versteht irgendjemand den anderen? Wer toleriert den anderen? Wie nah ist man sich wirklich? Wieviel Platzangst entsteht? Wieviel Ruhe will man vor dem anderen? Der Konsens ist: Jeder will sein Glück. Die tragische Ironie: Glück funktioniert oft nur durch das Unglück des Anderen. Alle Sehnsucht nach etwas Besserem als dem Status Quo zerplatzt oft an der individuellen Unfähigkeit zur Aufrichtigkeit oder Offenheit. Der Mikrokosmos Familie als Spiegelbild der allgemeinen Einzelkämpfer-Welt.

" *Enjoy* - genieße, freue dich - erscheint wie zum Hohn als goldfarbener Schriftzug über der spartanisch eingerichteten Wohnung in den "elysischen Gefilden", einem proletarischen Milieu von New Orleans. Wer hier lebt, streitet sich oft und lange, greift auch zu physischer Gewalt und versöhnt sich anschließend auf unüberhörbare Weise. Stanley Kowalski, ein gebürtiger Amerikaner mit polnischen Wurzeln, kann mit seiner aus "besseren Kreisen" stammenden Ehefrau sogar noch eine Trophäe vorweisen, die sich ihm in sexueller Abhängigkeit vollkommen ausgeliefert hat. (…) Ungebrochen ist für ältere Filmfreunde und jüngere Cinéasten die archaische Wucht der Jahrzehnte alten Verfilmung, die immer wieder im Fernsehen auftaucht. Martin Pfaff hat deshalb gut daran getan, das Stück mit Akteuren zu besetzen, die vom Typ her das genaue Gegenteil der ehemaligen Protagonisten sind. So wird ein Vergleich vermieden. Natascha Mamier lässt als dünkelhafte Blanche hinter ihrem zunehmend hysterischer anmutenden Gebaren einen zutiefst verletzten Menschen aufscheinen, der sich seine Scheinwelt so lange schön redet, bis er selbst daran glaubt. Ob ihre "Lebensbeichte" gegenüber ihrem verklemmten Verehrer Mitch - Christoph Gummert in einer trefflichen Charakterstudie - nun Lüge oder Wahrheit ist, scheint ihr selbst nicht bewusst. Nicola Schubert als ihre auch figürlich kleine Schwester verkörpert eine junge Frau, deren eigener Wille - sofern jemals vorhanden - restlos verloren gegangen ist und erst am Ende wieder wach wird. Beileibe nicht unsympathisch gestaltet Robert Oschmann die Rolle des Stanley Kowalsky als einen auf direkte Art aufrichtigen (und damit verletzenden) Proleten. Unaufhaltsam treibt dieser Zusammenprall der Milieus auf die Katastrophe zu."
(Lippische Landeszeitung)

"Sehnsucht – Begierde – Spaß: ist es also dieses Dreieck, in dem sich die Detmolder Inszenierung von „A Streetcar named Desire / Endstation Sehnsucht“ abspielt? In dem sich die zweifelhafte „Heldin“ Blanche DuBois bewegt? Besser: Das Dreieck, in dem Blanche gefangen ist? (…) Martin Pfaff, ist seit Beginn dieser Spielzeit Schauspieldirektor am Landestheater Detmold. Seinen Einstand hat er mit einer leichten Boulevard-Komödie gegeben und sich dann auch noch ein „EVENT“ genanntes Experiment geleistet. Dabei hätte ich eigentlich erwartet, er würde die „Ära Pfaff“ programmatisch mit einem „großen“ Stück eröffnen (der „Faust“ hätte sich dafür geradezu angeboten!). Denn schließlich hat Pfaff das Detmolder Publikum als Gastregisseur jahrelang mit gelungenen Regiearbeiten verwöhnt, vom Klassiker („Kabale und Liebe“) über die volkstümliche Klamotte („Charleys Tante“) bis zum anspruchsvollen Gegenwartsstück („Am Schwarzen See“) – lauter solide, handwerklich einwandfreie Inszenierungen von ordentlichen Stücken, in aller Regel dicht am Original, ohne deshalb auf eigene Regie-Akzente zu verzichten! – Und so sah ich durchaus mit Spannung seiner ersten Inszenierung eines „ordentlichen Stückes“ als frischgebackener Detmolder Schauspieldirektor entgegen. (…) Und? Was hat uns der neue Schauspieldirektor geboten? – Eine solide, handwerklich einwandfreie Inszenierung, dicht am Original, ohne deshalb auf eigene Regie-Akzente zu verzichten! Bravo! (…) Und in diesem Einheits-Bühnenbild spielt also die ganze Geschichte. Die von Tennessee Williams gewünschte Öffnung nach außen, zur Straße hin, entfällt – und damit entfällt das New-Orleans-Flair dieser „Elysische Gefilde“ genannten Straße mit ihrer „Atmosphäre des Verfalls“, aber auch ihrem „flotten Charme“. (…) So wird das Stück zum Kammerspiel, ganz konzentriert auf die vier Hauptpersonen: (…) Gemeinhin kennt man dieses Stück als Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten Blanche und Stanley: überlebte Südstaaten-Grandezza gegen vitale Yankee-Hemdsärmeligkeit. In Martin Pfaffs Inszenierung verschiebt sich der Akzent hin zu einer tragischen Königskinder-Beziehung: Mitch und Blanche hätten sich so gerne liebgehabt, aber der Graben war einfach viel zu tief. Im Fokus steht die Entwicklung des Verhältnisses dieser beiden Suchenden, mit dem Höhepunkt einer – sowohl hinsichtlich der Inszenierung als auch der schauspielerischen Leistungen! - wundervollen Szene: dem nächtlichen tête-à-tête, bei dem sich die beiden nach allen Regeln der Kunst auf ihre Eignung als Ehepartner abklopfen und sich tatsächlich näher kommen – rundum stimmig, bis ins Detail (etwa die geradezu poetische Art, in der Mitch die Aufgabe löst, Blanche hochzuheben). - In dieser Konstellation passt es sehr wohl, dass Blanche am Schluss nicht (nur) von dem brutalen Stanley vergewaltigt wird, sondern zunächst einmal vom braven Mitch, der nun mal in den moralischen Vorurteilen jener Zeit befangen ist: wenn sie schon nicht die Heilige ist, die ich meiner Mutter vorstellen kann, dann muss sie ja wohl die Hure sein, die beliebig verfügbar ist! - Sehnsucht – Begierde – Genuss. (…) Kaum ein Zuschauer dürfte sich wundern, wenn zum Ende des Stücks das leuchtende „Enjoy“ verlischt. Doch sie, die Zuschauer, haben es wohl genossen (der Beifall lässt es vermuten): das herausragende Stück, die durchdachte Inszenierung, die wunderbaren Darsteller!"
(kulturinfo-lippe.de)